Der Babysohn ist mittlerweile 14 Monate alt, ein Kleinkindsohn also eher. Der eigene Wille macht sich bei ihm und seinen Altersgenossen von Tag zu Tag deutlicher bemerkbar. Im gleichem Maße höre ich immer mehr Reden vom Grenzen setzen, Kinder müssen schließlich Grenzen kennen. Oder?
Während ich darüber nachdenke, wo diese Grenzen verlaufen sollen und wie man ihre Einhaltung bewirken kann, zeigt der Babysohn dem Mann und mir vor ein paar Tagen ganz eindrücklich seine eigenen Grenzen auf:
Wir waren eine Woche zusammen im Urlaub und schleppten den Zwerg überall hin mit: zum bummeln, Essen gehen, baden und vor allem zum wandern. In der Tragehilfe auf meinem Rücken konnte er seine Nickerchen machen, genauso auf den Autofahrten zu unseren jeweiligen Ausflugszielen. Da er tagsüber ohnehin keinen festen Schlafrhythmus hat, planten wir bei unseren Tagesausflügen gar nicht erst feste Schlafenszeiten ein, sondern fuhren einfach los, wenn wir soweit waren.
Tagsüber schlafen ist doof – meistens
An einem dieser erlebnisreichen Tage voller frischer Luft und Sonne trug es sich dann zu, dass der Babysohn unterwegs nur ein halbes Stündchen nickerte, weil es einfach zu viel zu sehen und zu hören und zu erfahren gab. Als wir drei gegen 17 Uhr total platt an der Talstation der Seilbahn wieder in unser Auto stiegen, ratzten meine beiden Männer innerhalb weniger Minuten ein. Nach einer knappen halben Stunde erreichten wir unser Domizil, wo der Mann den weiterhin fest schlafenden Sohn ins Bett trug. Allein das war schon ungewöhnlich – tagsüber schläft er meist so leicht, dass er aufwacht, sobald man ihn hoch nimmt. Etwa eine halbe Stunde nach unserer Ankunft hörte ich über das Babyfon, dass er aufgewacht war, und ging zu ihm. Er saß im Bett und ich begrüßte ihn freundlich, schob die Vorhänge beiseite und nahm ihn auf den Arm.
Da fing er an zu weinen. Binnen weniger Sekunden steigerte sich das Weinen zum Schreien. Er schrie laut und heftig, wie ein ganz kleines Baby. Ich erschrak: Hatte er Fieber? Tat ihm irgendwas weh? Hatte ihn ein Insekt gestochen? Ich konnte mir das plötzliche Weinen nicht erklären. Ich ließ ihn stillen, aber er beruhigte sich nur kurz und fing danach sofort wieder an, zu schreien. Ich zog ihn aus, schaute nach etwaigen Stichen, Verletzungen, wunden Stellen – Fehlanzeige. Frisch gewickelt und angezogen bot ich ihm zu Essen und zu Trinken an, aber er war nicht interessiert und weinte und schrie verzweifelt. Ich fing an, ihn herumzutragen und zu schaukeln wie früher, als er noch ganz winzig war. Er wand sich auf meinem Arm und schrie. Alle Beruhigungsversuche scheiterten, er schien überhaupt nicht richtig ansprechbar zu sein. Mir lief der Schweiß in Strömen, was war denn hier los?! Der Mann kam dazu und versuchte sein Glück, aber das Söhnchen ließ sich auch vom Papa nicht beruhigen und weinte herzerweichend.
Da folgte ich einer plötzlichen Eingebung und ging mit meinem brüllenden, knallroten, schwitzenden, tränenüberströmten Sohnemann zurück ins Schlafzimmer, zog die Vorhänge wieder zu, machte das Licht aus und kuschelte mich im dunklen Zimmer mit dem Zwerg ins Bett. Nach 10 Sekunden hörte das Weinen auf. Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis der Ärmste sich so beruhigt und entspannt hatte, dass er in den Schlaf fand, aber er weinte nicht mehr, hatte die Augen geschlossen, lag einfach angekuschelt und wurde nach und nach ruhiger. Schließlich schlief er, und zwar bis zum nächsten Morgen, fast 13 Stunden.
Was war los?
Er war offenbar einfach müde gewesen und ich hatte es nicht kapiert! Wahrscheinlich hatte irgendein Geräusch ihn geweckt, aber er hatte weiterschlafen wollen. Normalerweise bleibt er, wenn er so spät am Nachmittag nochmal geschlafen hat, danach abends recht lange wach und munter. An diesem Tag aber war es offensichtlich alles ein bisschen zu viel gewesen. Er hatte viel erlebt, fast nicht geschlafen und das kurze Schläfchen während der Autofahrt und anschließend im Bett hatte nicht gereicht, um seinen Akku aufzuladen. Als ich ihn dann irrtümlicherweise für wach hielt, aus dem Bett hob und sozusagen zur Normalität übergehen wollte, war seine Grenze erreicht: Er konnte und wollte das nicht, es war ihm zu viel, er wollte einfach nur schlafen! Weil er es nicht sagen konnte und sich nicht zu helfen wusste, fing er so sehr an zu weinen, der arme Kerl.
Grenzen sind persönlich und situativ unterschiedlich
Der Mann und ich waren ganz schön baff, als der Zwerg dann wieder schlief, und haben noch eine Weile darüber nachgedacht, was sich da gerade zugetragen hatte. Ich denke, es lässt sich letztlich darauf reduzieren, was wir Erwachsenen ja auch von uns selbst kennen: Unsere eigenen Grenzen sind variabel. Nicht nur sind sie von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich, sondern sie sind auch stark abhängig von unserer Tagesform, und diese wiederum von einer Vielzahl äußerer Umstände.
Damit wir seelisch gesund bleiben, ist es meiner Meinung nach für uns wichtig, ein Gespür für unsere eigenen Grenzen zu entwickeln und sagen zu können: „Stop, das hier ist mir jetzt gerade zu viel, das möchte ich jetzt nicht.“ Vielleicht hat es mir 100 Mal nichts ausgemacht, dass der Babysohn ziemlich laut auf sein Xylophon eindrischt, aber wenn ich Migräne habe und mich Sorgen plagen, darf ich durchaus sagen, dass mich das jetzt einfach stört und ich deshalb jetzt nicht möchte, dass er Xylophon spielt. Das wird er noch nicht verstehen, er wird enttäuscht und sauer sein. Aber wenn ich seine Reaktion mitfühlend begleite und seinen Frust ernst nehme, kann er hoffentlich auf die Dauer lernen, Rücksicht auf die Situation seines Gegenübers zu nehmen. Er kann Mitgefühl entwickeln.
Grenzen respektieren heißt Mitgefühl entwickeln
Das funktioniert allerdings nur, wenn er auch die Erfahrung macht, dass seine eigenen Grenzen respektiert werden. Dass er schlafen darf, wann er möchte, nicht zum essen gezwungen wird, und sich nicht von jedermann anfassen lassen muss, wenn er das nicht möchte. Dass er auch jenseits dieser elementaren Beispiele respektvoll und einfühlsam behandelt wird. Nur dann kann er – denke ich – auch lernen, respektvoll und einfühlsam mit den Grenzen anderer umzugehen.
Denn darum geht es mir beim Thema Grenzen: Nicht darum, irgendwelche gesellschaftlichen Prinzipen oder Konventionen durchzudrücken, die ohnehin meist recht willkürlich sind. Und auch nicht um Grenzen um der Grenzen willen, „weil Kinder nunmal Grenzen brauchen“. Sondern um Empathie und Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit der eigenen Situation und der Situation des Umfeldes.
Grenzen geben Sicherheit

Ich bin kein Freund der Theorie vom „Grenzen testen“ und „bis hierhin und nicht weiter“. Ich möchte keine Machtkämpfe führen und Reviere abstecken, und ich glaube nicht, dass diese Art von Grenzen Kindern Sicherheit gibt, wie es manchmal behauptet wird. Aber Grenzen können für mich auf eine andere Art und Weise Sicherheit bedeuten, nämlich ganz einfach in sicherheitsrelevanten Situationen. Noch läuft der Babysohn nicht, aber bald wird er das tun und dann wird es ein Tabu sein, auf die Straße zu zu rennen, genauso wie es Tabu sein sollte, Kugelschreiber in Steckdosen zu stecken oder fremden Hunden ins Gesicht zu langen. Solche Grenzen sind nicht variabel oder verhandelbar, sondern unumstößlich.
Auch das müssen Kleinkinder aber erstmal lernen. Sie müssen Dinge akzeptieren, die sie kognitiv noch gar nicht verstehen und nachvollziehen können. Das lernen sie, denke und hoffe ich, indem wir führen, indem wir konsequent und klar sind. Nicht zu verwechseln mit: streng und bedrohlich. Klingt kompliziert? Ist es bestimmt auch. Zum Glück gibt es aber schlaue Menschen, die sich dazu fundiert und ausführlich äußern, zum Beispiel die Psychologin Christiane Rupp in diesem aufschlussreichen Artikel für Rabeneltern.org: „Brauchen Kinder Grenzen?“ Eine Lese-Empfehlung gibt es auch für diesen Text der Kleinkindpädagogin und Bloggerin Susanne Mierau: „Die wichtige Frage für Eltern: Warum ist mir das so wichtig?“ Und wer es noch genauer wissen will, kann mit den Klassikern „Kinder verstehen“ (Herbert Renz-Polster) oder „Dein kompetentes Kind“ (Jesper Juul) nicht allzu viel falsch machen. Viel Spaß beim weiterlesen!