„Jeder Jeck ist anders“ sagen wir im Rheinland und meinen damit, dass jeder der sein kann, der er will, und dass jede die Dinge tun kann, die sie tun möchte, und zwar so, wie sie es tun möchte, kurz: Dieser Satz steht für Freiheit und Meinungsfreiheit.
Eigentlich wollte ich hier übrigens einen Text über Reizüberflutung schreiben, aber dann wurde daraus ein Plädoyer für mehr Toleranz im Umgang miteinander, vor allem unter Müttern. Seht selbst:
Wie es wohl ist, du zu sein, frage ich mich, als du gestern erschöpft auf meinem Arm einschläfst. Du bist k.o., warst eigentlich den ganzen Nachmittag müde, aber hast einfach nicht in den Schlaf gefunden, egal wieviel Ruhe und Nähe ich dir gegeben habe. Immer gab es doch noch etwas zu entdecken. Kurz bei mir auftanken und dann wie von einem Magneten gezogen weiter spielen, weiter forschen, weiter gucken, hören, kennenlernen. Schließlich übermannt dich der Schlaf gegen 17:30 Uhr, und was mir ein Nickerchen zu werden schien, war dann doch schon Nachtschlaf.
Um mich besser in dich hineinversetzen zu können und zu verstehen, was deine Tage so aufregend und anstrengend macht, schnappe ich mir die Kamera, um die Wohnung aus deiner Perspektive zu erkunden*:

Jetzt verstehe ich dich besser! Mein kleiner Fototrip durch unsere Wohnung hat mir wenigstens eine Ahnung deiner Perspektive verschafft. Je mehr du wahrnimmst, je mobiler du wirst, je mehr in deine Reichweite rückt, desto spannender wird der Alltag für dich. Nur logisch, dass es dir da manchmal schwer fällt, zur Ruhe zu kommen!
Wie mag es erst draußen sein, in der Stadt, in der U-Bahn, in fremden Wohnungen, Cafés oder Geschäften? Neulich sah ich ein Video, das zeigt, wie es Kindern im nach vorne gerichteten Buggy ergeht, die durch eine belebte Fußgängerzone geschoben werden, ohne ein vertrautes Gesicht oder irgendeinen festen Anhaltspunkt zur Orientierung vor sich zu haben. Und ich las einen Artikel über eine Studie, die besagt, dass Kinder im Alter bis zu zwei Jahren erhöhte Stresslevel aufweisen, wenn sie nicht mit Blickrichtung zum Schiebenden sondern mit Blickrichtung nach vorne im Kinderwagen gefahren werden. Beides fand ich sehr eindrücklich, und es hat mich darin bestärkt, dich vorerst weiterhin zu tragen, und wenn wir den Kinderwagen irgendwann wieder ausprobieren möchten, dann erstmal „rückwärts“.
ABER:
Mir fielen dann direkt mehrere Eltern in unserem Freundeskreis ein, die ihre etwa gleichaltrigen Kinder (unser Babysohn ist 9 Monate alt) nicht (mehr) tragen, sondern mit Blick nach vorne im Kinderwagen fahren, in sitzender Haltung. Es sind liebevolle, kluge Eltern, die die Bedürfnisse ihrer Kinder ernst nehmen und darauf eingehen. Und mir fiel wieder einmal auf, wie leicht es ist, Menschen in Schubladen einzuordnen: Tragen oder Kinderwagen, BLW oder Brei, stillen oder Flasche, Familienbett oder nicht, Vegetarier oder Fleischesser, und und und…
Vor allem Mütter können ganz groß sein in dieser handlichen „Sortierung“ ihres Umfeldes. Zack, hat die Birte** aus der Krabbelgruppe den Stempel weg: „Das ist doch die, die keine Stoffwindeln benutzt.“ Deutlich anstrengender als Krabbelgruppen (wobei, ich weiß es nicht, ich bin in keiner 😉 ) können Facebook-Gruppen sein. Auch in Gruppen, die thematisch um einen bedürfnis- und bindungsorientierten Umgang mit Kindern kreisen, wird gedisst, was das Zeug hält. Warum eigentlich? Müssen wir uns als Mütter wirklich so sehr darüber definieren, wo unser Kind schläft, wie es von A nach B gelangt und wovon es sich ernährt? Natürlich nehmen diese Dinge einen gewaltigen Anteil in unserem Leben ein, das sehe ich ja an mir selbst, und unter anderem auch an diesem meinen Blog. Und naturgemäß geht man so mit seinem Kind um, wie man es gemeinsam mit dem Partner für richtig hält, man ist also von der eigenen Herangehensweise überzeugt. Mein Mann und ich haben uns für einen bedürfnisorientierten Umgang mit unserem Sohn entschieden, manche nennen es Attachment Parenting, und bisher lieben wir es, auf diese Weise für ihn da sein zu können. Ich finde es auch überhaupt nicht verboten, viel davon zu erzählen, sich auszutauschen und möglicherweise auch anderen Eltern, die gerade in einer schwierigen Situation sind, Tipps zu geben wie: „Bei uns ist es viel besser geworden, seit Jonas in unserem Bett schläft.“
Aber wenn meine Freunde Arndt und Vivian nun trotzdem nicht wollen, dass ihre Tochter Emma mit im Elternbett schläft, dann so what? Sie bleiben meine Freunde, sie bleiben liebevolle Eltern, die das Beste für ihr Kind wollen, und sie gehen ihren Weg. Und erst wenn dieser Weg sich Zonen nähert, die ich wirklich besorgniserregend finde (zum Beispiel wenn das Wörtchen „Schlaflernprogramm“ fällt), sehe ich mich als Freundin in der Pflicht, ihnen zu sagen, wie ich das sehe und warum.
Es tut ganz gut, sich ab und zu mal daran zu erinnern, dass bloß weil ich jetzt von so einer Studie gelesen habe und mir das einleuchtet, nicht auszuschließen ist, dass jemand anders von einer anderen Studie mit gegenteiligem Inhalt gelesen hat und ihr das ebenfalls eingeleuchtet hat. Keine von uns weiß, was nun wirklich stimmt, auch wenn es mir schwer fällt, das zuzugeben, denn ich bin natürlich überzeugt, dass „meine“ Studie stimmt. Aber womöglich gibt es gar nicht den einen, richtigen Weg, sondern was stimmt, hängt von der jeweiligen Familie ab und abertausenden kleiner Faktoren und individueller Umstände, die wir als Außenstehende gar nicht ermessen können. Also sollten wir aufhören mit den fiesen „mummy wars“ und es mit den Rheinländern halten: Jeder Jeck ist anders – und das ist auch gut so! ❤
*Falls es irgendwem noch nicht aufgefallen ist: Ich bin eine wahnsinnig begnadete Fotografin und habe auch ganz tolles Equipment. Nicht. 😉
**Alle Namen in diesem Text sind übrigens frei erfunden.